Und weiter gehts, immer nur häppchenweise...
Irgendwann zeigt sich der Gastgeber mal wieder und weckt le Chik unsanft auf, sollte nun womöglich mal was passieren? Denkste, jetzt gibt's erstmal wieder was zu Essen, Broschettes (Fleischspieße) werden aufgetischt. Ich bin inzwischen ziemlich genervt, Hunger habe ich auch nicht, daher lehne ich meinen Spieß trotzig ab. Ist sicher ein Fehler, in jedem Fall sehr unhöflich, le Chik schaut mich auch sehr kritisch an. L'Autorité ist es herzlich egal, er freut sich vielmehr darüber einen zweiten Spieß zu bekommen. Nach dem Essen rechne ich schon mit der nächsten Teezeremonie, doch diesmal täusche ich mich, l'Autorité ruft direkt zum Aufbruch. Wir gehen mit den beiden Machern auf einen kleinen Hügel in der Dorfmitte und mir wird erklärt, dass wir gleich die von uns Verdächtigten identifizieren sollen. In der Tat dauert es keine fünf Minuten bis sich knapp 80 Jungen und Männer - die komplette männliche Dorfbevölkerung - auf dem Hügel im Halbkreis eingefunden haben. Die Stimmung ist angespannt, Stefan und ich sind extrem nervös. Auch mein Spezi von gestern Abend mit den schiefen Mundwinkeln ist anwesend. Nun endlich wird l'Autorité seinem Namen gerecht, er hält eine wütende, etwa zehn Minuten dauernde Ansprache während der keiner der Zuhörenden auch nur einen Mucks von sich gibt. Stefan und ich beraten uns derweil, der Junge mit den schiefen Mundwinkeln sieht nervös aus, schaut nur auf den Boden und wackelt unentwegt mit den Beinen. Genauso verhalten sich noch zwei andere Jugendliche direkt neben ihm, von denen zumindest einer gestern im Oued dabei war. Aufgrund ihres äußerst auffälligen Verhaltens während der Ansprache sind wir uns nun völlig sicher, dass unter ihnen der Dieb zu finden ist. Als l'Autorité seine Ansprache beendet gehe ich zu ihm, frage ihn flüsternd ob ich wirklich jetzt vor versammelten Dorf meine Vermutungen aussprechen soll. "Bien sur" erwidert er, also gehe ich schnurstracks zu den Dreien, zeige auf sie und sage, dass wir sie verdächtigen. Ich sage natürlich dazu, dass dies reine Spekulation ist, welche auf unseren Eindrücken von gestern Abend beruht. Doch das hilft jetzt nicht mehr viel, Hektik bricht aus: Zwei der Verdächtigten, vor allem aber der mit den schiefen Mundwinkeln, sind außer sich vor Wut, springen zwischen den Leuten hin und her, fuchteln wie wild mit den Armen und schimpfen lauthals - außer dem wiederholt vorkommenden "Allah" verstehen wir natürlich nichts. Es kommt zu Handgreiflichkeiten, meine Güte, was haben wir da nur angerichtet?! Eine knappe halbe Stunde lang diskutiert der männliche Teil der Dorfgemeinschaft nun aufgebracht, wir haben aber nicht wirklich den Eindruck dass sich etwas tut. Ich frage l'Autorité ob wir die Häuser der Verdächtigten sehen können - nein, das ginge nicht, dafür müsste ich erst morgen eine Anzeige bei der 65 Km entfernten Gerdarmerie in Agballa machen. Langsam macht sich bei allen eine gewisse Ratlosigkeit breit und irgendwann fragt mich l'Autorité dann auch was ich jetzt zu tun gedenke. Sch****, gibt der jetzt etwa schon auf? Ich übertreibe maßlos, sage, dass ich morgen zur Gendarmerie möchte und dann das ganze Dorf durchsuchen will. Ohne Fahrrad würden wir die Gegend nicht verlassen lüge ich weiter, mindestens eine Woche könnten wir warten (tatsächlich hatten Stefan und ich abgemacht, dass wir spätestens morgen mit dem Taxi Richtung Marrakesh fahren). Ich verhalte mich damit so, wie Said junior und Norredine es mir vorher eingebläut hatten: Hartnäckig sein, Druck machen, auf seinem Recht bestehen. In der Tat scheint das Eindruck zu machen, es folgt eine längere Beratung zwischen l'Autorité, le Chik und zwei älteren Dorfbewohnern. An ihrem Ende verkündet mir l'Autorité, dass er jetzt erstmal die umliegenden Dörfer besuchen und sich dort nach dem Rad erkundigen möchte. Wir mögen solange hier warten. Also düst er mit seinem Landrover davon, während wir der Einladung der beiden Dorflehrer zum Tee in die Schule folgen. Der eine, noch sehr junge Lehrer spricht gut Englisch und erzählt uns von den großen Problemen hier im Dorf: Letzten Herbst hätten Jugendliche die Scheiben eines Touristenjeeps eingeworfen, im Sommer hat es eine Vergewaltigung gegeben und im letzten Winter soll ein Jugendlicher seinen vermeintlichen Freund in der Schule erstochen haben! Die Lehrer selber sind aus Beni Mellal und nicht freiwillig hier, bemühen sich schon seit Langem um Versetzung...
|