Nach einer gefühlten Ewigkeit kehrt l'Autorité zurück ins Dorf, Neuigkeiten gibt es allerdings keine (Ich vermute, dass er nur wieder irgendwo Tee getrunken hat). Wieder werden die Männer des Dorfes zusammengetrommelt, wieder gibt es eine Ansprache vom Provinzchef, diesmal allerdings weitaus weniger feurig als beim ersten Mal. Die Männer diskutieren lange, während Stefan und ich langsam anfangen zu resignieren. Hier ist keine Dynamik mehr drin und langsam dämmert es - wir glauben nicht mehr dran, dass heute noch was passiert. Doch wieder werden wir überrascht, denn aus völlig heiterem Himmel bricht erneut Hektik aus: Die Männer brüllen sich auf einmal gegenseitig an, jetzt ist auch mal le Chik mittendrin und liefert sich ein Wortgefecht mit einem unserer Hauptverdächtigten. Dann kommen auf einmal einige Frauen auf den Hügel gelaufen, zwei von ihnen wild schreiend bzw. heulend. L'Autorité schickt Stefan und mich in seinen Rangerover. Von der Rückbank aus beobachten wir verunsichert das nun immer verrückter werdende Spektakel. Eine der Frauen (vermutlich die Mutter eines der Verdächtigten) führt sich auf, als wäre ihr Sohn ermordet worden, sie liefert sich mit le Chik eine handgreifliche Auseinandersetzung, in die sich im Folgenden noch einige weitere Personen einmischen. Es wird an den Haaren gezerrt und mit der flachen Hand geschlagen, einmal geht auch jemand zu Boden. Ich habe keine Ahnung, wer hier gegen wen kämpft, auf jeden Fall ist die Hölle los. Mittendrin sind auch die Verdächtigten: Einer ist nahe an meinem Fenster und starrt mich mit weit aufgerissenen verweinten Augen an, zeigt dabei mit einer Hand in Richtung Himmel und macht mit der anderen Ohr-Abschneide-Gesten (später wird mir einer der Lehrer erklären, er habe gesagt, dass Allah das Fahrrad geklaut hätte, die Ohr-Geste hat er angeblich nicht gesehen). Während Stefan noch recht cool ist bekomme ich echt Angst, weil ich bei Teilen der Dorfbevölkerung unweigerlich an einen Lynchmob denken muss. Allerdings scheint immerhin l'Autorité noch seine Autorität zu besitzen, ihn rührt keiner an und er schafft es einigermaßen, die Stimmung nicht überkochen zu lassen. Nach einer gefühlten Ewigkeit - wahrscheinlich allerdings nicht mehr als 3 Minuten - kommt L'Autorité zum Rangerover, diskutiert vom Fahrersitz aus noch ein wenig mit le Chik, fährt dann aber unter wildem Geschrei der Dörfler schließlich ab. Al hamdulilah! Ich bin ziemlich von der Rolle und erstmal nur froh, dass wir jetzt den Ort verlassen, das Fahrrad habe ich gerade gar nicht mehr im Kopf. Am Ortsausgang fragt mich der Lehrer, was in der Tasche gewesen sei. "Wie zum Teufel kommt der jetzt darauf?" denke ich und antworte, dass es nur Klamotten waren. Er fragt ob wir die Tasche unbedingt brauchen. Nein, natürlich nicht, nur das Fahrrad. Woraufhin l'Autorité sich kurz umdreht: "La bicyclette a été trouvé". Ich verstehe ihn zwar, glaube aber kein Wort. Ich frage den Lehrer ob das ein Spaß gewesen sei. Nein, nein, das Fahrrad sei da. Stefan und ich können es absolut nicht glauben. Erst jetzt merken wir, dass auch Said, der nette alte Mann aus Tassreft, im Rangerover ist. Und der hat ein äußerst breites Grinsen im Gesicht. Der Grund ist jetzt klar, er hat das Fahrrad gefunden! Wir erreichen das Haus der Zwerge - am Wegesrand liegt Stefans Rad! Stefan und ich sind außer Rand und Band, springen aus dem Jeep, rufen "al hamdulilah" und umarmen alle Beteiligten. Und die strahlen, die Zwerge, der Lehrer und Said freuen sich mit uns, l'Autorité ist sichtlich stolz auf die getane Arbeit. Uns wird erklärt, dass Said an dem Zeltplatz die Spur des Diebes aufgenommen hat. Das sei sehr schwierig gewesen, weil sie immer wieder lange unterbrochen war. Letztendlich habe sie ihn allerdings etwa einen Kilometer weit von der Piste weg steil den Berg hinauf geführt, wo er das Rad schließlich hinter Bäumen versteckt fand. Das Fahrrad sieht im Prinzip OK aus, allerdings ist am Hinterrad Mantel und Schlauch komplett von der Felge gezogen. Who cares?
Auf der Weiterfahrt erklärt mir der Lehrer, warum es kurz zuvor in Tarssout zu der Hektik gekommen ist. L'Autorité hatte die Nachricht des Fundes den Dorfbewohnern mitgeteilt und die Tatsache, dass das Rad nicht im Dorf gefunden wurde haben einige als Beleg dafür angesehen, dass der Dieb nicht aus ihrem Dorf sei. Einige Leute seien dementsprechend sehr böse auf Stefan und vor allem auf mich wegen meiner Anschuldigungen gewesen. Der Lehrer meint dazu, ich solle nicht weiter darüber nachdenken, die Leute seien komplette Vollidioten und verstünden gar nichts (nun, zumindest die völlig absurde Logik von ihnen war mir auch aufgefallen...).
Als wir wenig später in Tassreft einfahren ist immernoch eine große Menschenmenge in der Dorfmitte versammelt, sofort ist jedes Augenpaar auf den Jeep gerichtet. Es ist ein bisschen so, als ob die Schalker Spieler mit der Meisterschale im Gepäck nach Gelsenkirchen einfahren würden: Stefan springt hinten aus dem Jeep, nimmt das Rad an und reißt es wie einen Pokal in die Höhe - das Dorf antwortet mit lautem Gejubel! Alle möglichen Leute kommen zu uns, begutachten das Fahrrad, wollen uns die Hände schütteln. Ich bin so geflasht, dass ich einfach alle umarme, was auch niemanden zu stören scheint. Einfach nur geil, wie dieses Dorf mit uns mitgefiebert hat. L'Autorité fragt mich noch mehrmals ob jetzt alles in Ordnung sei, er genießt sichtlich den Erfolg seiner Mission - der natürlich ausschließlich dem Fährtenleser Said zu verdanken ist...
Ein paar Zeilen zum Abend in Tassreft folgen noch...
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